Istanbul 2011

Nachmittagsstimmung in Kadiköy. Möwen gleiten im Sinkflug über den Fährterminal. Wir warten auf die Fähre über den Bosporus nach Eminönü. Fischhändler verkaufen in ihren mobilen Ständen Fischbrötchen oder Muscheln mit Zitrone. Alles frisch zubereitet, alles direkt aus dem Meer gefangen. Wir bummelten durch die Gassen Kadiköys. Etwas den Berg hinauf hier auf der asiatischen Seite Istanbuls kann man den Großhändlern beim Feilschen zuschauen. Es wird geschrieen und die Köstlichkeiten aus dem Meer werden mit Inbrunst angepriesen. Stetig prasselt Eis auf den ausgelegten Fang. Einheimische kramen in ihren Taschen nach Geld oder verpacken ihre Einkäufe für das Abendessen.

Ursprünglich wollten wir von Kadiköy aus den Zug zur syrischen Grenze nehmen und in Syrien über die alte Kreuzfahrerstadt Aleppo nach Damaskus reisen. Eine Zugfahrt sollte uns durch die Levante, den östlichen Mittelmeerraum, vorbei an byzantinischen Spuren zu den zwei ältesten Städten der Welt führen und ihren Abschluss in Beirut am Mittelmeer finden. Die arabische Welt ist aber in Aufruhr. Politische Brände sind im Libanon, im Yemen und in Syrien ausgebrochen. Libyen steht lichterloh in Flammen und Ägypten lodert nach wie vor in der Post – Mubarak – Ära. Nachdem sieben estnische Touristen im libanesischen Bekaa-Tal aus Syrien kommend wahrscheinlich von der pro-syrischen palästinischen Untergrundorganisation „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ entführt wurden, ändern wir unsere Reiseplanung.

Anstatt Istanbul zu verlassen genießen wir nun die Marktatmosphäre. Fliegende Teeträger tragen den schwarzen Tee, Cay genannt, auf ihren Tabletts durch die Gassen. Leere Cay – Gläser vor Geschäften sind Zeugnise eines erfolgreich abgeschlossenen Geschäftes. Dicker Qualm billiger türkischer Zigaretten wabert durch die Luft.

Der Muezzin beginnt mit den Worten „Allahu akbar – Gott ist größer!“ das Abendgebet und führt die Tradition weiter, die zuerst von einem Abessinier namens Bilal al-Habaschi als Sklave im Dienste des Propheten Mohammed vor hunderten von Jahren begonnen wurde.
Menschenmassen strömen unablässig wie ein stetiger Fluss Richtung Fähre. Unterbrochen wird dieser Strom an Körpern nur durch die fliegenden Händler, die sich ihm in den Weg stellen. Darunter fallen in traditionelle Gewänder gekleidete armenische Frauen auf, die vor ihren Waren hocken und Blumen oder Lederwaren aus Sowjetzeiten verkaufen. Meistens ignoriert hoffen sie auf Kundschaft, um ihre Geldbeutel etwas zu füllen. Zwischen westlicher Mode und traditionellem Kopftuch stechen diese Farbtupfer hervor und zeugen von der armenischen Gemeinde auf der arabischen Seite Istanbuls.

Über tausend Jahre lang war Konstantinopel die Hauptstadt des östlichen Christentums, eine der reichsten Metropolen in Europa. Verbunden mit der Seidenstraße wurde Byzanz, wie es die Griechen und Römer bezeichneten, als Leuchtfeuer der Zivilisation angesehen und strahlte vom nordafrikanischen Küstenstreifen über den Balkan sowie den gesamten nahen Osten hin bis zum nordischen Kulturkreis der Wikinger, die Myklagaard einfach nur die „große Stadt“ nannten.

Über die Jahrhunderte wurden über 70 unterschiedliche Sprachen in den Straßen Istanbuls gesprochen. Auf den Märkten handelten aramäisch sprechende Syrer mit lateinisch sprechenden Nordafrikanern während jüdische Kaufleute neben persischen Seidenhändlern ihre Dienste anboten.

Diese kulturelle Vielfalt scheint nun bedroht zu sein. Ein drohender Vorbote auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt ist das Meer an uniformen Satellitenstädten mit ihrer architektonischen Monokultur aus fünf bis zehnstöckigen quadratischen Wohnblöcken. Gestern las ich im Shuttlebus sitzend im Stau vor der Bosporusbrücke William Dalrymples Buch „From The Holy Mountain“. 1997 reiste er auf den Spuren des byzantinischen Mönchs Johannes Moschos entlang der Seidenstraße des alten Byzanz durch den heutigen Mittleren Osten. In Istanbul beklagte Dalrymple schon damals eine „Erosion der multikulturellen Toleranz durch den eingeleiteten Nationalismus der Ottomanen zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert“. Seiner Ansicht nach ist das einst multikulturelle Istanbul ethnisch verarmt. Tatsächlich sind über 90% der heutigen Bevölkerung Türken. Ausländische Diplomaten und Politiker verschwanden in die Hauptstadt Ankara.

Ankara in Form der AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, so befürchten viele, vollzieht eine schleichende Islamisierung des Landes. Befürworter und Gegner des Kopftuches führen hitzige Debatten. Die Gattin des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan goss mit ihrem öffentlichen Bekenntnis zum Kopftuch weiteres Öl ins Feuer und ist für die Kemalisten ein Symbol des fundamentalistischen Glaubens und einer generellen Rückständigkeit.

Erdogan gilt vielen Türken als politisches Chamäleon. Eine Verurteilung wegen Volksverhetzung konnte nicht verhindern, dass er Ministerpräsident wurde. Einerseits gewährte er den Kurden größere kulturelle Rechte und setzte eine Kommission zur Klärung des Völkermordvorwurfes an den anatolischen Armeniern ein, andererseits wird nach wie vor armenisches Kulturgut in Anatolien systematisch vernichtet. Die Armenier behaupten, dass osmanische Armeeeinheiten damit begannen, den Osten Anatoliens ab 1915 systematisch ethnisch zu säubern. Bis zu einer Millionen Armenier sollen bei Vertreibungen durch die Wüste umgekommen sein. Die Türkei selber streitet einen „Völkermord“ kategorisch ab, gibt aber zu, dass tausende Armenier bei „Umsiedlungsaktionen“ gestorben sind. Als der Nobelpreisträger für Literatur Orhan Pamuk 2006 die Türkei aufrief, sich endlich ihrer Geschichte zu stellen, wurde er postwendend wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt und am 28. März 2011 zu einer Schadenersatzzahlung in Höhe von 6000 türkischen Lira verurteilt. Dies zeigt, wie viel Sprengstoff diese Diskussion in sich birgt.

Zahlreiche Mitglieder der armenischen Gemeinde Istanbuls sind Migranten aus Ostanatolien, die immer wieder Übergriffe kurdischer Banden oder der türkischen Armee ausgesetzt waren. Die armenische Präsenz in Ostanatolien schwindet. Seit Jahren wandern syrisch-orthodoxe Christen aus dem Tur Abdin, der ehemaligen Ostgrenze des byzantinischen Reiches am Oberlauf des Tigris im Südosten der Türkei ab.

Zufluchtsländer sind die Nachbarstaaten, wie Syrien, Libanon, der Irak und auch EU – Länder. Von den ungefähr 100000 Christen in der Türkei leben heute ca. 85000 in Istanbul. Schätzungen zufolge sind weniger als 3000 Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien (heutiges Antakya) in Ostanatolien übrig geblieben. Sie sind nach der Urgemeinde in Jerusalem die älteste christliche Kirche überhaupt und gingen aus den christlichen Gemeinden der syrischen Bevölkerung im 3. Jahrhundert nach Christus hervor. Indirekt beteiligt an diesem Exodus ist wiederum die regierende AKP Partei.

Beispielhaft für die Anfeindungen gegenüber der syrisch-orthodoxen Minderheit sind die juristischen Konflikte um das Kloster Mor Gabriel. Im Jahre 397 gegründet, gilt Mor Gabriel als eines der ältesten christlichen Klöster der Welt. 2008 verklagten kurdische Bauern, die von lokalen Politikern der AKP unterstützt wurden, das Kloster wegen „rechtswidriger Ansiedelung“.

Ein Jahr später wurden in einem anderen Prozess 27 Hektar Klostergrundbesitz dem lokalen Forstamt zugesprochen. In einem weiteren Prozess sprach im Januar 2011 ein Berufungsgericht in Ankara einen Teil der klostereigenen Ländereien dem türkischen Staat zu. Am Tag der Urteilsverkündung prangerte der türkische Präsident Abdulla Gül die Diskriminierung von Christen durch die Behörden seines Landes an.

Leider aber folgen den Worten des Präsidenten keine Taten. Ich wende mich wieder „From The Holy Mountain“ zu und erfahre, dass Dalrymple Ende der 80er Jahre als Journalist des Independent die Zerstörung von armenischem Kulturgut recherchierte. So beklagen die Armenier die Vernichtung von Chatschkaren, Kreuzsteine, die als Sinnbilder für die Erlösung Christi oder die Kreuzigung geschaffen wurden, sowie von Kirchen und anderen christlichen Artefakten in Ostanatolien durch türkische Behörden.

Kulturverlust und Konflikte führten zur Niederlassung eines Großteils der geflohenen syrisch-orthodoxen Gemeinde in Aleppo im heutigen Syrien. Nach dem Zweiten Weltkrieg zwang aber die nationalistische Bewegung dort die Armenier wieder zur Flucht. Aus Aleppo alleine flohen in den 60er Jahren ca. 125000 Armenier in das damals von der Sowjetunion besetzte Kernland Armeniens.

Dies änderte sich erst in den 70er Jahren mit der Machtübernahme durch Hafiz al-Assad. Assad selber gehörte den Aleviten an, also einer muslimischen Minderheit und festigte seine Macht in Syrien durch die Formung einer Koalition unter den zahlreichen religiösen Minderheiten Syriens.

Während nun die Fähre nach Eminönü in den Hafen einläuft und noch mehr Menschen aus den Gassen der Altstadt Richtung Terminal gespült werden, erheben sich viele der armenischen Händlerfrauen und hoffen auf ein gutes Geschäft. Runde grobe Gesichter lächeln einladend und Hände, die zupacken können, bieten den vorbei hetzenden Kunden Blumensträuße an. Die Automaten spucken unaufhörlich Münzen aus, die eilig in die Zugangsgitter gesteckt werden, die einem Einlass zur Fähre gewähren.

An der Uferpromenade schießen vereinzelte Kunden mit Luftgewehren auf am Wasser aufgespannte bunte Luftballons. Gierige Möwen, die auf Brotstücke der Fährgäste warten, werden die Fähre nach Eminönü im Tiefflug begleiten. Im Innenraum laufen die Nachrichten und ich sehe die jüngste Entwicklung in der arabischen Welt.

In Ägypten positioniert sich die islamisch-fundamentalistische Muslimbruderschaft für die angekündigten politischen Reformen und in Syrien demonstrieren 10000 Protestler gegen das Bashar al-Assad Regime. Bilder von fliehenden Menschen, auf die Scharfschützen feuern, flackern über den Bildschirm. Und hier schließt sich der Kreis. Fällt Assad, stürzt der von ihm kontrollierte Geheimdienst Muhabarat, so müssen die orthodoxen Christen in Syrien mit Besorgnis in eine unsichere politische Zukunft schauen.

(c) Marcus Hillerich

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