Ladakh 2009

„Hello Meesta, prayer wheel?“
„No Thank you“
„Meesta – maybe later?“

Der kashmirische Händler, der mich im Marktgetümmel anspricht, kennt sich aus. Natürlich werde ich ihn wiedersehen – und zwar sobald ich nach meinem Einkaufsbummel auf der Bazaar Road in Leh wieder zu meinem Hostel zurückkehre. An einem Händler, der etwas auf sich hält, führt kein Weg vorbei, ohne dass er einen anspricht. Und so ist Standhaftigkeit gefragt. Nein, Wasser möchte ich nicht. Nein, auch kein kaltes. Und immer noch keine Gebetsmühle. Der Weg zum Buchladen, in dem ich mich mit Reiselektüre eindecken möchte, wird etwas länger dauern.

Es ist schön, wieder in Leh zu sein und die Atmosphäre aufzusaugen. Das geschäftige Zentrum Lehs ist die Bazaar Road. Indische Soldaten schlendern die Straße entlang. Ladakhische Frauen in traditioneller Tracht verkaufen auf der schattigen Seite der Straße Gemüse und Obst auf den Bürgersteigen. Dem Besucher fallen sofort die meist dunkelbraunen oder bordeauxroten Gewänder mit einer weiten Taille und zwei langen Ärmeln auf. Dazu gehört ein weit nach rechts ausgeschnittenes Vorderteil sowie ein langer Rock, der nur die Sicht auf feste Stiefel freigibt. Die dunkle Haarpracht ist zu feinen Zöpfen geflochten. Goldschmuck, Silber, Kupfer und Perlen tragen bescheidenen Wohlstand zur Schau. Die tibetische Tracht ist ein Symbol des Reichtums und der Schönheit sowie im ursprünglichen Sinne Ausdruck der tibetischen Kultur.

Einheimische und Touristen begutachten die dargebotenen Waren in den Schaufenstern der Geschäfte oder an den Verkaufsständen. Neue Geschäfte mit greller Leuchtreklame und großen Schildern verdrängen zunehmend die weiß getünchten alten Steinhäuser mit blauen Holzfassaden und Flachdächern. In regelmäßigen Abständen spenden uralte Bäume Schatten.

Darunter hocken Menschen mit von Wind, Kälte und sengender Sonne gegerbten Gesichtern, die Geschichten von harter Arbeit unter freiem Himmel und von Entbehrung erzählen. Sie strahlen einen an, oder unterhalten sich gestenreich mit anderen Händlern. Muslime aus dem benachbarten Kashmir lehnen an ihren mit getrockneten Aprikosen prallgefüllten Plastiksäcken und laden den Besucher zum Probieren ein. Bergnomaden aus den entlegenen Winkeln des südlich von Ladakh gelegenen Zanskar bieten ihren harten Yakkäse an, der auf den kargen Hochweiden der schroffen Himalayahänge im Sommerhalbjahr gewonnen wurde. Buddhistische Mönche mit Gebetsmühlen in den Händen schlendern die Straße hinauf. Muslime, bekleidet mit dem Salwar Kamiz, einem Zweiteiler aus längerem ab der Hüfte abwärts geschlitztem Hemd über einer langen Hose, tragen ihre Einkäufe in Säcken vom Markt zurück zu ihren Häusern.

Leh ist die Hauptstadt der indischen Provinz Jammu Kashmir und liegt 3500 Meter über dem Meer. Die Stadt ist der Ausgangspunkt für meine 200 Kilometer lange Trekkingtour durch die Landschaften des auf indischer Seite gelegenen südlichen Himalaya. Schon vom Flugzeug aus ist das grüne, wasserreiche und sehr fruchtbare Seitental des Indus zu erkennen, in dem Leh liegt. Das alte tibetische Wort „Slel“ oder „Sles“ für Leh bedeutet Oase – ein Hinweis darauf, dass die Stadt ein beliebter Handelsplatz ist. Hier kreuzen sich Karawanenwege, über die seit Jahrtausenden eine Verbindung zwischen den Völkern aus Tibet, Kashmir, Yarkand und Baltistan besteht. Dieser Knotenpunkt wurde früher mühsam in mehreren Tagesetappen zu Fuß oder auf dem Pferdedrücken erreicht. Einfache Bauern oder Nomaden aus dem von gewaltigen Bergrücken eingerahmten Zanskar mussten die hohen Bergpässe überqueren oder im Winter auf dem zugefrorenen Zanskarfluss ihr Glück entlang der Eiskanten versuchen, um ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Leh zu tauschen. Heute kann man im Flugzeug vom Himmel fallen und in die tief spirituelle, im Westen häufig als „Shangri – La“, also als sagenumwobenes, verstecktes Paradies, propagierte Region Ladakh eintauchen.

Hier – im westlichen Teil des Großreiches Tibet – entfaltet sich vor den Augen des Betrachters eine abwechslungsreiche Landschaft, geprägt von enormen Höhenunterschieden. Für Touristen wie mich ist das Atem beraubend. Die Einheimischen müssen jedoch unter den schwierigen Rahmenbedingungen, die diese Gebirgslandschaft bietet, überleben. Den Menschen in diesem Teil der Erde gelingt dies mit Hilfe einer bewundernswerten Anpassungsfähigkeit. Der Buddhismus, der die vielen Ethnien gleichsam wie ein Fundament trägt, gibt den Menschen Kraft. Nach der Einführung des Buddhismus in Tibet aus Indien verschob sich das kulturreligiöse Machtzentrum nach Osten. Die Stadt Lhasa, mit der Ladakh vom 13. Jahrhundet an eng verbunden war, wurde das religiöse Zentrum, Diese Verbindung, die einen lebhaften kulturellen und religiösen Austausch gewährleistete, wurde 1959 jäh getrennt. Tibet wurde durch den gewaltsamen Einmarsch der Chinesen Teil des chinesischen Reiches und verlor seine nationale Unabhängigkeit.

Ich habe die Händler auf der Bazaar Road hinter mir gelassen und sitze mit meinen Begleitern auf der Terrasse des „Sheldan Guesthouse“. Von hier aus haben wir einen guten Blick auf das bunte Treiben auf der Hauptstraße. „Hello, hello, how are you???“ schreit uns ein Knirps im Vorgarten zu. Er flitzt – halb nackt, nur mit Pullover und Kappe bekleidet – einer Katze durch die Blumenbeete hinterher. Wir sitzen mit schwarzem Tee und Keksen bewaffnet in der Sonne. Hier in Chanspa, der Neustadt Lehs oberhalb des alten Zentrums, ist wie nirgendwo sonst die rasante flächenhafte Ausdehnung der Stadt in das fruchtbare Ackerland zu erkennen. Wo 2005 bei meinem ersten Besuch noch Gemüsegärten kultiviert wurden, die durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem mit Schmelzwasser aus den Bächen der Umgebung versorgt wurden, treibt der durch den Tourismus ausgelöste Bauboom nun mannigfaltige Blüten. Dreistöckige Hotels, Gasthäuser sowie Restaurants und die obligatorische „German Bakery“ preisen ihre Dienste und Waren an. Trekker, Backpacker, Esoterikjünger und Hobbybuddhisten skypen und chatten in den unzähligen Internetcafés oder schlendern bei Stromausfall die Geschäfte ab.
„Hello, hello, how are you???“ dröhnt es wieder vom Zaun her. Die Katze ist vergessen. Der Junge hat seinen Blick Richtung Hauptstraße gerichtet. Rastalocken, knatternde Royal Enfield Motorräder und mit Trekkingausrüstung beladene Jeeps sind viel spannender geworden. Ich frage mich, wie der Kleine in diesem Aussteigermekka wohl aufwachsen und kulturell beeinflusst wird.

30 Kilometer südlich von Leh treffen wir auf unsere Ausrüstung, unsere Helfer sowie auf unsere Lastentiere. Der Dieselwolken speiende Jeep rüttelt uns durch die Landschaft, bleibt immer wieder hinter TATA LKWs hängen oder muss der ein oder anderen Pferdekolonne ausweichen. Nach über einer Stunde werden wir von unserer Mannschaft hinter dem Dorf Jingchan im Markha-Tal begrüßt. Die ersten Tage werden uns durch einen Teil dieses beliebten Tals führen, bis wir dann weiter in südöstlicher Richtung die Kharnakregion durchwandern werden. Diese mündet in die über 5000 Meter hohen Plateauflächen mit den riesigen Seen Tso-Kar und Tso Moriri. Uns erwartet ein abwechslungsreicher Trek. Neun Pässe, tiefe Schluchten, weite Täler mit schroffen, schneebedeckten Bergflanken und ausgedehnte Wüstenlandschaften werden uns entlang der Route durch die nördliche Zanskarkette begleiten. 15 Tage später sollen uns die Jeeps wieder im Dorf Korzok am Tso Moiri in Empfang nehmen .

Das Ziel der ersten Tage ist eine gründliche Akklimatisierung. Der Körper soll sich bei kleineren Tagesetappen von Siedlung zu Siedlung langsam an die Höhe gewöhnen. Bergpässe und tiefe Schluchten mit Flüssen und grünen Kissen gleichenden Gerstefeldern finden wir auf dem ersten Teilstück unserer Tour vor. In der Hochgebirgswüste Ladakhs sticht jedes Dorf wie eine Oase heraus.

Die Menge des verfügbaren Wassers bestimmt die Größe und Ausdehnung. Bewässerungsgräben, welche vor vielen Generationen errichtet wurden, zapfen Bachläufe mit Schmelzwasser aus den Eisregionen an und bringen es zu den Feldern, auf denen Gerste bis in eine Höhe von 4500m angebaut wird. Die Erntezeit beschränkt sich auf ein Drittel des Jahres. Hochgebirgsgerste ist über die Zeit zur zentralen Achse geworden, um die sich das Leben Ladakhs dreht. Gerstenmehl bildet das Grundnahrungsmittel und wird zudem fermentiert, um daraus Chang, eine Art Bier, zu erzeugen. Viehzucht ist ein weiterer Bestandteil der Landwirtschaft. Tiere liefern Wolle, Milch und durch ihren Dung den Brennstoff für die harten Wintermonate. Domestizierte Yaks oder Dzos (Kreuzungen aus Yaks und Kühen) werden auf die Hochweiden getrieben. Pferde transportieren Güter oder Trekkingausrüstungen über die Bergpässe.

Den Kleinen läuft unaufhaltsam die Nase. Als Taschentuch dienen entweder Pulloverärmel oder Handrücken. Riesige, schwarzen Murmeln gleichende Augen funkeln mich an. Neugierige, lachende Gesichter unter dicken, bunten Wollmützen versteckt und dennoch machtlos gegen die Intensität der Sonne verfolgen gespannt jede unserer Bewegungen, reagieren heiter auf unsere Späße und erforschen aufmerksam unsere mitgebrachten Sachen. Kinderhände greifen nach meiner Kamera oder blättern in den mitgebrachten Reiseführern. In jeder Siedlung stellen wir eine Attraktion dar. Die Menschen kommen auf uns zu, ein Lächeln auf den Lippen. Wir sprechen ihre Sprache nicht, verstehen sie aber trotzdem. So vergehen Stunden, ohne dass digitaler Wohlstandsschrott nötig wäre, um den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Dann bricht die Nacht herein und das Abendessen ruft. Diese flüchtigen Momente treiben mich an, brennen sich mir ins Gedächtnis ein und nähren in mir den Wunsch, immer wieder zurückzukommen.

Im Markha-Tal gelangen wir öfters zu abgelegenen Dörfern oder kleinen Siedlungen. Hunde flitzen kläffend auf uns zu. Felder werden bestellt, Tiere vor sich hergetrieben, Wäsche wird gewaschen. Aufgesammelter und auf Mauern oder Häuserdächern aufgestapelter Yakdung liegt als Brennmaterial in dieser baumleeren Hochbegirgswüste bereit. Häufig sind im Sommer die Ehemänner unterwegs und verdienen sich als Tagelöhner, Bauarbeiter, oder Pferdeführer etwas hinzu.

Mehr Wohlstand und bessere Lebensbedingungen dringen erst spärlich und langsam in die entlegenen Weiten Ladaks und Zanskars ein. Und dennoch gibt es Forschritte. Zugang zu Bildung ermöglicht ein Studium in Bangalore oder Dehli. Der Aufbau einer eigenen Trekkingagentur in Leh kann ein verlässliches Einkommen sichern. Der Blick über den Tellerrand führt aber auch zum Bruch kultureller oder religiöser Gepflogenheiten und Tabus. Die vielen neuen Eindrücke der jüngeren Generation können bei den Angehörigen Staunen, bisweilen aber auch völliges Unverständnis und familiäre Konflikte auslösen.
„Meine Eltern haben mir meine Frau ausgesucht. Sie kommt aus dem Dorf Lingshed und ich werde sie jetzt kennenlernen“ erzählt mir mein Freund Stanzin. “Mein Vater möchte zudem, dass ich den Hof übernehme und nicht in das Reisegeschäft weiter einsteige“ fügt er hinzu.
„Und du, was möchtest du?“ frage ich vorsichtig, da ich weiß, dass Stanzin seit fünf Jahren hart arbeitet und in dieser Zeit nach seinem Studium sehr erfolgreich seine eigene Trekkingagentur in Leh leitet.
„Ich werde einen Kompromiss finden, werde eine kurze Zeit auf dem Hof meinem Bruder bei der Arbeit helfen und den Rest des Jahres weiter Trekkingtouren organisieren. Bitte verstehe, es geht nicht ohne einen Kompromiss.“
Die erste Woche vergeht wie im Flug. Hinter der Siedlung Dat in der Region Kharnak verändert sich die Landschaft plötzlich rapide. Auf unserer Route in weiterhin südöstlicher Richtung erreichen wir nun die weiten Wüstentäler der Hochflächen. Im Kloster von Dat platzen wir in die Vorbereitungen für eine Gebetszeremonie hinein.
„Om mani padme hum, om mani padme hum“ rezitiert ein alter Mönch ruhig und gelassen das wohl populäreste Mantra des tibetanischen Buddhismus und ignoriert die Rauferei einiger kleinerer Mönche. Zahlreiche Mönche und Novizen sitzen auf einer Terrasse und formen Gerstenmehl namens Tsampa mit Buttertee zu kleinen Kegeln, die auf einem Tablett in Reihen platziert werden. Ich geselle mich dazu, bleibe aber in einiger Entfernung, um nicht zu aufdringlich zu wirken. Man hat nichts dagegen, schielt aber immer wieder in meine Richtung. Die Rauferei findet ihren Höhepunkt oberhalb meines Platzes. Plötzlich rieselt Gerstenmehl von oben auf mich herab. Alles grinst und hat einen Heidenspaß. Nun kommen die jungen Mönche näher, zeigen mir ihre geformten Tsampakegel und interessieren sich für meine Kamera. Um alle gleichzeitig durch den Sucher schauen zu können, schubsen sie mich fast um. Ein älterer Mönch schmeißt mir einen dicken Brocken Tsampa zu. Die Gestik und Mimik ist eindeutig – ich soll mich an die Arbeit machen. Meinen Prototypen lasse ich sofort von ihm begutachten. Er nickt kaum merklich und schmiert mir dann lachend Tsampa in die Haare. Die Menge jolt, die Rauferei über mir ist zu Ende.

Wie massive Trutzburgen wirken die Klöster, die ohne Zweifel die spirituellen und materiellen Zentren der ladakhischen Gesellschaft sind. Das Gompa, was so viel wie abgelegener einsamer Ort bedeutet, wurde häufig auf Bergrücken oder an Bergflanken gebaut und thront als Bastion des Buddhismus über den Dörfern. Bunte Gebetsfahnen und Tschörten, ursprünglich Reliquienschreine sowie Manisteinmauern mit eingravierten Mantras weisen schon von weitem auf ihre Existenz hin.

Die Gompas unterscheiden sich von den großen monastischen Einrichtungen Tibets, die eher Universitätscharakter haben und für tausende von Mönchen aus allen Winkeln Tibets als Lehranstalten fungieren. In Ladakh besteht eine enge Beziehung zwischen den Klöstern und ihren Dörfern, die geprägt ist von Interaktion und gegenseitiger Abhängigkeit. Die Lamas bieten religiöse Dienste an, bestimmen glückverheißende Zeitpunkte für Hochzeiten und gefährliche Reisen oder geben den Menschen die Möglichkeit, durch uneigennützige Taten gutes Karma anzuhäufen. Als Gegenleistung stellen die Dorfbewohner die materielle Basis zum Überleben zur Verfügung. Diese wirtschaftliche Verbundenheit zwischen Gompa und Dorf ist oft äußerst komplex. So können bestimmte Familien die Klosterparzellen kultivieren, andere geben Naturgüter für wichtige Zeremonien ab, wie zum Beispiel für Klosterfeste. Dabei ist wohl das größte materielle und emotionale Opfer die Abgabe eines Sohnes als Mönch zur Aufnahme in das Kloster.
Die stabilen und weiß getünchten Außenmauern gleichen Wehranlagen und schützen ein System von dunklen Kammern und Gängen, welches an dunkle Kaninchenbauten erinnert. Das Mönchsleben ist hier ursprünglicher als in den aufpolierten Vorzeigeklöstern mit Museumscharakter im Industal. Mönche praktizieren dort genauso ihren Glauben, arbeiten gleichzeitig aber auch als touristische Dienstleister, die mit schwarzer Sonnenbrille und iPod Gebetsräume aufschließen und im klostereigenen Museum Postkarten verkaufen. Stoische Gelassenheit hilft, wenn Kameralinsen permanent auf sie gerichtet sind. Taucht man aber weit weg von den ausgetretenen Pfaden in das Alltagsleben der Gompas ein, öffnet sich einem eine ureigene Welt, die einen teilhaben lässt, die Austausch auf Augenhöhe erlaubt.

„Mir ist KALT!!! Mir ist sooooo KALT!!!“ schreit Jens aus seinem Schlafsack. Irgendwie zittert das ganze Zelt.
„Mir ist auch KALT!!! Ich brauche eine Wärmflasche……“ schallt es aus dem zweiten Zelt heraus. Diesmal ist es Martin. „Shelak, uns ist KALT……“ Ich höre Shelak im Küchenzelt nur lachen. Unser Guide und seine Helfer haben einen ganzen Berg an Wärmflaschen für sich und für uns mitgebracht und sind damit beschäftigt, Wasser auf den Benzinkochern zu erhitzen. Es ist wirklich KALT, wenn sogar er sich unter zwei Jacken und einer dicken Wollmütze versteckt.
„Shelak, Shelak – no cold…..“ dröhnt es heiter aus dem Zelt der Pferdeführer. Die haben einen billigen Fusel dabei und glühen mittlerweile von innen.

Wir zelten auf über 5000 Metern. Nach einem üppigen Mahl haben wir uns in unsere Schlafsäcke verkrochen. Am nächsten Morgen ist der Bach vor unserem Zeltplatz zu einem mickrigen Rinnsal geschrumpft, das lethargisch vor sich hin plätschert. Eis hat sich auf den Zelten gebildet.

Die auf dem Außenzelt vergessene frisch gewaschene Trekkinghose kann nun zum Auftauen auf die Wiese gestellt werden. Die dünne Graskrume um uns herum ist schockgefroren und erwartet, wie wir alle, sehnsüchtig die wärmenden Sonnenstrahlen. Auch heute muss eine Instantdusche herhalten, murmele ich und greife nach dem Deoroller. Temperaturstürze von 30° Celsius sind keine Seltenheit. Langsam erwärmt sich die Landschaft und erst mittags füllen sich die Bäche wieder mit mehr Schmelzwasser. Unsere Köche brauchen das frische Nass zum Kochen, Waschen und abgekocht als Trinkwasser. Die riesigen Gletscher des Himalayas sind lebensnotwendige Wasserspeicher für die Menschen der Region. Ohne den steten Zustrom an frischem Wasser wäre die Hochgebirgswüste ein völlig lebensfeindlicher Raum, der keinerlei Landwirtschaft und somit keine Ernährungsgrundlage für die Menschen zuließe. Auf über 5000 Metern entspringen die zahlreichen Wasserläufe, die die großen Flüsse Asiens und Südostasiens nähren, von denen drei Milliarden Menschen abhängen. Schätzungen haben ergeben, dass ein Fünftel der Eismasse seit den Sechziger Jahren der globalen Erwärmung zum Opfer gefallen ist. Hält dieser Trend an, wird die Ernährungssicherung bedroht, so dass die Ressource Wasser zukünftig Konflikte auslösen wird.

Verschiedene Rottöne, die das gleißende Abendlicht der untergehenden Sonne auf die Bergflanken gezaubert hat, tanzen als Spiegelbilder auf der Oberfläche des Tso Moiri-Sees und verabschieden unseren letzten Tag. Nach 200 Kilometern Trekkingtour holen uns die Jeeps am nächsten Morgen in Korzok ab und rumpeln stundenlang im Industal zurück nach Leh. Die beschwerliche Fahrt macht durstig und so flitze ich direkt nach der Ankunft in Leh an einen Verkaufsstand, um mir eine Flasche Wasser zu kaufen.

„Hello Meesta, want postcard?“
„No, thank you“ erwiedere ich freundlich.
„Oh Meesta, cheap, cheap, make you good price. You make me lucky!“

Leh hat uns wieder.

(C) Marcus Hillerich

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