Sog‘Lom Avlod Uchun 2011

Tashkent

Tashkent erwartet mich um drei Uhr morgens und wirkt wie ausgestorben. Der Taxifahrer jagt auf riesigen Prachtstraßen durch die menschenleere Stadt. An roten Ampeln stehen vereinzelt Männer und gähnen in die Dunkelheit. Kaum zu glauben, dass in dieser Stadt über zwei Millionen Einwohner leben. Nach zwanzigminütiger Fahrt erreiche ich das Gulnara Hotel. Ein großes Eisentor riegelt das Haus zur Straßenseite hin ab, als müsste es vor fremden Blicken geschützt werden.
„Willkommen, Willkommen – du hast hier reserviert. Komm herein“ werde ich von einer alten Babuschka am Eisentor begrüßt. Liebevoll verschlafen schaut mich ein rundes Gesicht mit tiefen Falten an. Graue Haare wehen zottelig um ihren Kopf. Sie trägt ein langes, buntes Gewand und winkt mich mit großen Händen hinein. Sie sieht mir meine Müdigkeit an. Ich werde durch einen Innenhof, in dem Obstbäume tagsüber Schatten spenden, über eine Eisenleiter zu meinem Zimmer hinauf geleitet. Minuten später bin ich eingeschlafen.

Am nächsten Morgen ist Tashkent wie ausgewechselt. Monumentale Architektur umgibt mich und lässt mich winzig erscheinen. Tashkent ist die Wirtschaftsmetropole in Zentralasien, Verkehrsknotenpunkt in Usbekistan und ein Kulturzentrum mit Universitäten und Theatern. Die Stadt liegt etwas nördlich der Seidenstraße und am westlichen Ausläufer des Tian Schan Gebirges. Alles hier ist geordnet und geplant. Gewaltige, teilweise sechsspurige Straßen durchziehen die Innenstadt. Kastanienalleen flankieren die Bürgersteige und lassen Häuserzeilen hinter sich verschwinden. Das Grün der Bäume wächst zu einem Tunnel zusammen und kanalisiert den Verkehr. Tashkent wirkt urban und manikürt. Parks tauchen plötzlich auf. Die Einwohner nennen Tashkent auch die ,grüne Stadt‘. Unzählige Neubauten spiegeln das neue Nationalbewusstsein wieder. Geschäftsleute kämpfen mit ihren Mobiltelefonen an Straßenkreuzungen. Ladas reihen sich wie Perlen an einer Kette am Straßenrand auf. Inmitten der Hauptstadt residiert Präsident Karimov, umgeben von dem monströsen, völlig in weiss getünchten Senatsgebäude am Mustaqillik maydoni, dem Unabhängigkeitsplatz. An der Westseite des Platzes scheint es die Polizei nicht zu stören, dass Jungendliche und Kinder nur mit Badehose bekleidet in den Anhor Kanal springen, der das Pakhtakor Stadium im Westen abtrennt und den Halbwüchsigen Abkühlung in der Bruthitze spendet.

Über meinen Bekannten und Solinger Journalisten Uli Preuss haben wir einen Kontakt zu Sog‘Lom Avlod Uchun hergestellt. Die Organisation, die die medizinische Versorgung im Land vorantreibt und sich insbesondere um das Wohlergehen der „jungen gesunden Generation“ kümmert, hat ihr Hauptquartier mitten in der Stadt. Uli arbeitet für die ,Friedensdörfer International‘ aus Oberhausen, die Hilfsprojekte in unterschiedlichen Ländern unterstützen. Die ,Friedensdörfer‘ unterstützen Sog‘Lom Avlod Uchun finanziell und mit medizinischem Gerät. Neben gynäkologischen Untersuchungen und der Bereitstellung von mobilen Kliniken wird insbesondere Kindern mit schweren genetischen Anomalien geholfen. So werden die Kleinen mit angeborenen Fehlbildungen, wie Lippen – Kiefer – und Gaumenspalten operiert. Usbekistan fehlt für diese komplizierten Eingriffe sowohl das Knowhow als auch die medizinischen Geräte.

Die Foundation wurde offiziell durch Präsident Karimov 1993 als eine internationale Nichtregierungs-organisation ins Leben gerufen. Sog‘Lom Avlod Uchun betreut humanitäre, medizinische und kulturelle Programme sowie Erziehungs- und Aufklärungsarbeit. Meine Kontaktperson bei Sog‘Lom Avlod Uchun ist Kim Tanya Romanovna. Sie arbeitet seit drei Monaten als Übersetzerin für Dr. Jumaboy Nurov, der achtzehn Jahre lang im usbekischen Gesundheitsministerium angestellt war und nun als leitender Chirurg für die Überführung von Kindern mit Fehlbildungen nach Deutschland verantwortlich ist. Tanya hat mir im Vorfeld per Email bei der Vorbereitung der Reise geholfen. Am Nachmittag finde ich mich zu einem ersten Treffen in den klimatisierten Räumen von Sog‘Lom Avlod Uchun ein. Für die Organisation arbeiten achtzehn Personen in Tashkent und jeweils sechs weitere in jeder einzelnen Region Usbekistans. Alle stehen im regelmäßigen Kontakt zueinander. „Tashkent koordiniert dabei die Einsätze im Land“, erklärt Tanya. Ich interessiere mich für die Kontaktaufnahme zu den kranken Kindern sowie für deren medizinische Betreuung. „Sog‘Lom Avlod Uchun unterstützt elf unterschiedliche screening centres im Land sowie zahlreiche mobile Kliniken. Die kranken Kinder werden in den Regionalbüros erfasst. Check up Teams gehen in unzugängliche Regionen und leisten dort eine medizinische Betreuung. Krankheitsbilder werden vor Ort registriert und eine eingehende Beratung erfolgt dann in Kooperation mit den Partnern aus den Geldgeberländern. Je nach Schwere der Krankheit wird darüber entschieden, wie die Kinder medizinisch versorgt werden bzw. ob eine Operation im Ausland notwendig ist.“

Dr. Nurov berichtet über seinen Zuständigkeitsbereich. Er hat ein freundliches Lächeln auf den Lippen und ist von untersetzter Statur. Ein kleines Bäuchlein drückt sich durch das Hemd. „Wir kooperieren seit 2002 mit den Friedensdörfern International. Zweimal im Jahr, im Februar und im August fliegen wir Kinder nach Deutschland aus. Seit 2002 sind über zweihundert Kinder in Deutschland operiert worden. Der Fokus liegt auf der plastischen Chirurgie. Gesichtsanomalien, Verbrennungen und schwere Darmverschlüsse werden vorzugsweise behandelt.“ Tanya fügt hinzu, dass eine solche Operation in Usbekistan ungefähr 1200 US-Dollar kosten würde, was bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von dreihundert US-Dollar eine unmögliche Ausgabe für die Familien darstellt. „Wie wird die Organisation von der Regierung unterstützt?“, möchte ich wissen. Dr. Nurov erläutert, dass die Regierung jedes Jahr Forschungsgelder bereitstellt und das 1998 ins Leben gerufene Programm „Gesunde Generation“ unterstützt. Er weist daraufhin, dass die Regierung bei der schnellen Ausstellung von Visa für die betroffenen Kinder hilft. So reduziert sich die Wartezeit von zehn auf drei Tage.
„Wir bekommen zwischen 10 – 15000 Euro jedes Jahr aus Deutschland. Des Weiteren werden medizinische Geräte und Krankenwagen finanziert. Friedensdörfer International leistet zudem schnelle Hilfe, indem schwere Krankheitsfälle mit Privatflugzeugen über Georgien nach Deutschland ausgeflogen werden.
Frau Zulagkhan, eine Gynäkologin und Mitarbeiterin von Dr. Nurov erläutert die Probleme. Sie ist eine energische Frau mittleren Alters mit einem runden Gesicht, dicken buschigen Augenbraun und einer kessen Kurzhaarfrisur. Frau Zulagkhan sprüht vor Energie und argumentiert, wie sie mit einem Lächeln hinzufügt, im Schlaf gerne mit ihrem Mann.
„Die Hitze im Sommer stellt ein enormes Problem dar. Infektionen treten viel schneller auf. Der Heilungsprozess wird beeinträchtigt und die Klimaanlagen können Erkältungen hervorrufen, die lebensgefährlich werden können“, erläutert sie. „Mehr Rollstühle wären notwendig. Es fehlt an Hörgeräten speziell für Kinder. Die beste Ausrüstung dafür ist in Deutschland zu bekommen. Zudem mangelt es an funktionalen Krankenhausbetten.“

Der Einsatz der ausländischen Wohltätigkeits-organisationen hat dazu beigetragen, dass Usbekistan in den letzten Jahren mehr und mehr Operationen selbstständig übernehmen konnte, da einerseits ein Wissenstransfer stattgefunden hat, lokale Ärzte weiterführende Qualifikationen erworben haben und andererseits technisches Gerät ins Land gekommen ist. Dr. Nurov stellt heraus, dass die Situation im Vergleich zu Afghanistan oder Tajikistan in Usbekistan viel besser ist. So muss Afghanistan viel mehr Kinder von ausländischen Spezialisten außer Land behandeln lassen.
Am Tag darauf besuche ich eine Klinik der Organisation in Tashkent. Die Flure sind blitzblank poliert. Frau Inamova Svetlana Turesunjodjaevna begrüßt uns herzlich. Sie sitzt im Aufsichtsrat von Sog‘Lom Avlod Uchun. Inamova ist eine Autoritätsperson, akkurat gekleidet mit Rose am Kragen des weißen Kostüms. Sie trägt ein zu aufdringliches Parfüm, was schnell den Konferenzraum dominiert. Sie spricht mit deutlicher Stimme und unterstreicht ihre Worte mit vielen Gesten. „2007 gab das Ministerium für das Gesundheitssystem sieben Milliarden Som aus (knapp drei Millionen Euro), drei Jahre später siebzig Milliarden Som und im Jahre 2012 sollen zweihundert Milliarden Som investiert werden“, sagt sie stolz. Medikamente werden von der amerikanischen Hilfsorganisation ,AmeriCares‘ gesponsert.

Trotz aller Verbesserungen werden nach wie vor aber auch erhebliche Mängel im usbekischen Gesundheitssystem deutlich. In den Städten sieht man keine Krankenwagen, dafür aber die Polizei an jeder Straßenecke. Die beiden Krankenwagen der Foundation wurden von deutschen und koreanischen Hilfsorganisationen gespendet und haben aufgrund ihres hohen Alters erhebliche Mängel. Ein weiterer Missstand im Gesundheitssystem ist auch hier die allgegenwärtige Korruption. Das aberwitzige Quotensystem der Sowjetunion gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Wurden noch vor zwanzig Jahren zu wenige blinde, gehörlose oder geistig behinderte Kinder in der Statistik erfasst, füllten Familien aus armen Verhältnisse diese Lücken auf, indem sie Krankheiten angaben, die sie nicht hatten. Unterbezahlte Ärzte nahmen nur allzu gerne ein Schmiergeld an, um den Familien wiederum die gewünschte Krankheit zu attestieren, die ihnen vom Staat finanzielle Unterstützung einbrachte. Ein privater Gesundheitssektor sollte das usbekische Gesundheitssystem revolutionieren, wurde aber vom Parlament im Jahre 2009 nicht verabschiedet. So basiert das Gesundheitssystem weiterhin zu weiten Teilen noch auf dem sowjetischen System der staatlich kontrollierten Polikliniken.

Marcus Hillerich (C) August 2011

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