Was habe ich mir vorgestellt? Zentralasien – staubige Handelswege, Karawanensiedlungen, prachtvolle Koranschulen in der Wüste, farbenfrohe Märkte und exotische Menschen? Der Abgleich mit der Realität ist hart und kam schon direkt am ersten Tag. Klischeehafte Seidenstraßenromantik muss ich zumindest sofort revidieren.
Monumentale Architektur umgibt mich und lässt mich winzig erscheinen. Prunk und Protz zeugen von einem starken Nationalbewusstsein. Taschkent ist die Wirtschaftsmetropole Zentralasiens, Verkehrsknotenpunkt in Usbekistan und ein Kulturzentrum mit Universitäten und Theatern. Alles hier ist geordnet und geplant. Kastanienalleen flankieren die Bürgersteige und lassen Häuserzeilen hinter sich verschwinden. Die Baumalleen beiderseits der Straßen wachsen zu einem grünen Tunnel zusammen und kanalisieren den Verkehr. Taschkent wirkt urban und manikürt.
In einer Seitengasse werden Vögel verkauft. Es trillert aus Käfigen. Tauben, Kanarienvögel und Hühner runden das Angebot ab. Ein Huhn wird inspiziert und wechselt ungewollt aus der Horizontalen in die Vertikale. Der Umgang mit Tieren ist robust. Etwas weiter hocken zwei Jugendliche über einem offenen Kanal. Der Deckel ist zur Seite geschoben worden. Der eine grinst mich verlegen an, zückt sein Messer und schneidet einem Huhn die Kehle durch. Blut rinnt stetig in den offenen Kanalschacht. Auf den Händen des jungen Mannes bleiben Spritzer zurück. Die scharfe Klinge glitzert blutverschmiert im Licht. Das tote Huhn zuckt wild und muss solange festgehalten werden, bis die letzten Muskeln nachgeben und die Endgültigkeit der Situation akzeptieren.
Vor dem Abteil werde ich plötzlich von Artem angesprochen. „Wie heißt du? Was ist dein Name? Ingles?“ „Marcus“, antworte ich und möchte wissen, wohin er fährt. „Ich will nach Samarkand. Es ist aber viel interessanter in Taschkent. Eigentlich möchte ich lieber dort leben.“ Er ist vierzehn Jahre alt und spricht ungewöhnlich gut Englisch. Ich interessiere mich für seine Familiensituation. „Meine Mutter ist Investmentbankerin. Wir haben schon in Israel gelebt und sind viel umgezogen. Ich spreche Russisch, Usbekisch,Englisch und ganz wenig Französisch“, sprudelt es aus ihm heraus. „Mein Vater ist tot. Er liebte schnelle Autos und Wodka. Eines Tages kam er von seiner Arbeit in Kasachstan nicht zurück. Das Auto wurde frontal von einem LKW erwischt. Er war bei einer Ölfirma angestellt.“
„Nach der Unabhängigkeit schuf Karimov ein neues Nationalbewusstsein. Er initiierte ein Programm für die junge Bevölkerung, damit sie ihre Kultur und Herkunft verstehen und eine Identität entwickeln konnten.“ „Damit hat er den Patriotismus bewusst geschürt…“, sage ich, „und uns selbstständiger und unabhängiger gemacht“, funkt Abdulrakhim dazwischen. „Du musst wissen, dass Amerika hier keinen großen Einfluss hat. Wir mögen Karimov, da er Amerika die Stirn bietet.“
Überall in der Küche hängen Bilder, die Gemeindemitglieder zeigen. Alte Frauen mit bunten Kopftüchern lächeln mich an. Ihre Männer mit weißen Bärten stehen neben Rabbinern. Orthodoxe Juden in schwarzen Roben schauen ausdruckslos drein. „Gone, all gone to Israel or America“, sagt sie leise. „Now we small community.“ Sie bringt auf den Punkt, was offensichtlich ist. Die „Buchara-Juden“ stehen kurz vor dem Aussterben.
An jedem Teppich arbeiten drei Knüpferinnen, die zusammen vier Monate für seine Fertigstellung benötigen. Jeden Tag kommen vier Zentimeter hinzu. Am Ende misst er dann 110 mal 200 Zentimeter. Jedes Jahr verkaufen wir ungefähr fünfundzwanzig Teppiche“ lässt mich Madrim wissen.
Im Schatten der Kirche stimmt ein einsamer Akkordeonspieler ein melancholisches Lied an. Es könnte eine melodische Hommage an die „Panfilov-Helden“ sein, deren angebliche Taten mit einem monströsen Kriegsdenkmal gewürdigt werden. Ich stehe davor und habe Angst, dass der „unglaubliche Hulk“ jeden Moment herunterspringt und mich in Stücke reißt. Das Steinensemble bewegt sich jedoch nicht.
Ulugbek hört usbekische Popmusik im Auto und wird immer redseliger, je näher wir seiner Heimat kommen. Permanent bimmelt sein Handy. Ich indessen sortiere die Notizen auf meinem Schreibblock. Auf einer Seite kann Ulugbek die mit einem Rotstift markierten Worte „Choresm“ und „Dschingis Khan“ lesen. Er macht die Musik leiser und sagt zu mir: „Choresm wurde zuerst von ihm verwüstet und dann im 14. Jahrhundert von Timur Lenk erobert und völlig zerstört.“ Offensichtlich kennt er sich aus. „Schon wieder die beiden“, murmel ich vor mich hin. „Erstaunlich ist, dass ihr in Usbekistan Nationalhelden habt, die euer Land komplett verwüstet haben.