Kathmandu sprüht vor Leben, obwohl die Hauptsaison noch nicht begonnen hat. Chaotischer Verkehr und zu viele Menschen auf der Straße machen den Weg zu dem Backpackerviertel Thamel zum Hindernisparcour. In Thamel kann man sich verlieren und den Absprung verpassen. Ich ziehe vorbei an Trekkingagenturen, die Touristen Touren in ganz Nepal anbieten. Viele spezialisieren sich aber auch auf grenzüberschreitende Treks, wie zum Beispiel nach Tibet oder Bhutan. Zwischen ihren Büros servieren Mitarbeiter in vielen Cafés hervorragenden Kaffee. Restaurants, German Bakeries und Läden für Raubkopien aller Art runden das Angebot ab. In den Seitenstraßen trifft man auf die kleinen Geschäfte, in denen die T-Shirts, North Face Jacken und Markenrucksäcke produziert werden. In den frühen Morgenstunden beliefern Fahrradrikschas von hier aus die vielen Geschäfte. Prall gefüllte Pakete mit der kopierten Ware finden ihre Abnehmer. Gebetsfahnen, Trommeln, Gebetsmühlen und Tigerbalsam kann man zu einem für die Händler guten Preis auf der Straße kaufen. „Meesta, prayer flag? Make you good price!“
In diesem Getümmel treffe ich Ang Kami Sherpa in einem Café. Kami hat mir 2008 eine Trekkingtour in das Langtang-Tal organisiert. Seitdem stehen wir in Kontakt. Es ist schön, ihn wieder zu sehen. Schnellen Schrittes kommt er die Straße entlang auf mich zugelaufen und eine kräftige Hand schüttelt meine stürmisch. Sein Gesicht hat sich nur leicht verändert. Seine schwarzen Haare sind etwas länger geworden und er trägt nun einen Seitenscheitel, der ihn seriös erscheinen lässt. Kami ist ein alter Hase im Bergsteigergeschäft. Sein Vater arbeitete schon am Berg, bis ihn ein schwerer Unfall zwang, den Beruf aufzugeben. Kamis Familie kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Heimatdorf Gumela liegt im Osten Nepals auf 2600 Metern. Bis zu seinem 14. Lebensjahr hatte er keine Schuhe und lief im Sommer, wie im Winter barfuß die Berge hinauf. Armut und eine mangelhafte medizinische Versorgung ließen vier seiner Geschwister sowie ein Elternteil frühzeitig sterben. Kami hieß ursprünglich ,Mingma‘ und war schwach und kränklich. Um nicht noch ein Kind zu verlieren, überlegten sich seine Eltern eine List. Der Kleine wurde kurzerhand in ,Kami‘ umbenannt, was so viel wie ,schwarzer Schmied‘ bedeutet. Seine Eltern hofften, dass die Geister und Dämonen sich nicht an einem wehrlosen Kind vergreifen würden, das seinem Namen nach der untersten nepalischen Kaste angehört. Die List ging auf. Kami wurde immer stärker und meisterte weitere Hürden. Der Junge musste früh einspringen und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. „Schon in der vierten Klasse arbeitete ich als Träger. Abwechselnd war ich zwei Wochen mit Trekkinggruppen unterwegs und dann wieder in der Schule.“ „Ging das lange gut?“, frage ich nach. „Nein, in der fünften Klasse stellte mich mein Lehrer vor die Wahl. Er sagte, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Ich entschied mich für das Trekking und verließ die Schule.“ Systematisch hat er sich seitdem hochgearbeitet. „Ich arbeitete bis zu meinem 15. Lebensjahr als Träger, dann ein Jahr als ,Kitchen Boy‘ in der Küchenmannschaft. Erst danach wurde ich Assistent eines Führers auf einer Expedition. Hier hatte ich großes Glück. Mein Sirdar, was soviel wie Lehrer bedeutet, war ein erfahrener Bergprofi.“ Während Kami erzählt, schlürfe ich einen Kaffee und schaue in seine aufmerksamen schwarzen Augen. Ich mag seine Bescheidenheit und die Ruhe, die er ausstrahlt. „Wie wichtig war die Arbeit bei deinem Sirdar?“ „Sehr, sehr wichtig. Bei ihm lernte ich das technische Klettern, die Organisation und Abwicklung einer Trekkingreise, die gründliche Materialvorbereitung und, ganz wichtig, die Kommunikation am Berg.“ Danach war Ang Kami Sherpa mit achtzehn Jahren bereit, seine erste eigene Gruppe zu führen. Er wurde selber zum Sirdar. Ihm ist es wichtig, herauszustellen, dass ein Träger und ein Sherpa nicht das gleiche sind. Das Wort Sherpa leitet sich aus den beiden Teilen ,Shar‘, was Osten bedeutet und ,Pa‘ ab, womit die Menschen gemeint sind. Sherpas sind also Menschen aus dem Osten Nepals, die eine südtibetische Sprache sprechen, größtenteils Buddhisten sind und damit ihre Verbindung zu ihrem ursprünglichen Herkunftsland bekunden. Die Sherpa wanderten vor ungefähr dreihundert bis vierhundert Jahren aus der östlichen Kham Region in Tibet nach Nepal ein. Sie werden heute fast immer bei Höhenexpeditionen engagiert.
Mit neunzehn Jahren nahm Kami das erste Mal an einer Everest Expedition teil und stieg bis in das ,Advanced Base Camp‘, kurz ABC auf, was auf 6500 Meter liegt. 2001 erreichte er dann zum ersten Mal den Gipfel als Mitglied der PR-starken Everest Expedition des blinden Amerikaners Erik Weihenmayer. „Wir brachen am Everest vier Rekorde. Noch nie war eine so große Gruppe von Alpinisten auf dem Gipfel. Achtzehn Bergsteiger erreichen alle ihr Ziel und noch nie stand ein Blinder auf dem höchsten Punkt der Erde. Auch bestieg zum ersten Mal ein vierundsechzigjähriger Mensch gemeinsam mit seinem Sohn den Everest.“ Weihenmayer ist der erste blinde Mensch der Welt, der die ,Seven Summits‘, die höchsten Berge auf den sieben Kontinenten bezwungen hat. Der Regisseur Michael Brown drehte einen Dokumentarfilm über die Everestbesteigung. ,Farther Than The Eye Can See‘ gewann achtzehn internationale Filmfestpreise. „Ich habe die fünfzehn Kilogramm schwere HDTV – Kamera auf über 8000 Meter getragen“, sagt Kami stolz in einem Nebensatz. Plötzlich steht er auf. „Lass uns zu meinem Büro fahren. Dort kann ich dir mehr in Ruhe erzählen.“ Wir verlassen das Café und brausen auf seinem Motorrad durch den Straßendschungel Kathmandus. Ein Motorrad ist hier die richtige Entscheidung. Links, rechts, geradeaus und auf der Gegenspur bahnen wir uns unseren Weg an Kühen und Menschen vorbei in die Vorstadt zu seinem Reisebüro ,Matterhorn Treks & Expedition‘. Der Name deutet auf seine tiefe Verbundenheit mit der Schweiz hin, wo Kami längere Zeit gelebt hat und immer wieder gerne hinreist. Wir ziehen die Schuhe aus, betreten sein Büro und er berichtet mir von den Risiken am Berg. Das ein oder andere Mal ist er schon in eine brenzlige Situation geraten. Bei einer Expedition stürzte er in eine Gletscherspalte, konnte sich aber selber wieder befreien. Besonders problematisch ist es, wenn man sein Leben für andere riskiert, weil die entweder schlecht ausgebildet sind oder eine mangelhafte Kondition haben. „Einmal habe ich einen slowenischen Bergsteiger mit Erfrierungen ins Tal getragen. Sherpas tragen im Durchschnitt vierzig bis fünfundvierzig Kilogramm Gepäck über den Kopfriemen gehalten auf dem Rücken. Der Kerl war aber fünfundachtzig Kilogramm schwer und ich musste ihn vier Stunden lang ins Tal schleppen, bis ich einen Yak fand, auf den ich ihn setzen konnte.“ Ich staune und denke direkt an meinen leichten Trekkingrucksack. Eigentlich müsste ich jetzt sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. „Ich weiß nicht, ob es die vielen Lasten waren, oder der Slowene, aber jetzt habe ich eine Delle im Kopf“, sagt er lachend und reibt sich die Stirn. „Was ist die größte Gefahr? Ist es die Höhe?“, möchte ich von ihm wissen. „Sicherlich ist die Höhenkrankheit ein Riesenproblem. Eine mangelnde Akklimatisierung ist sehr gefährlich. Ich kann die Anzeichen schnell und sicher erkennen, wenn ich neben dir am Berg gehe. Kopfschmerzen, rote Augen, ein Gang, wie ein Betrunkener sind erste Indizien. Wenn du abends keinen Hunger hast oder nichts trinken möchtest, sind das klare Symptome.“ „Dann hilft nur der sofortige Abstieg“, sage ich. „Richtig, und zwar um jeweils fünfhundert Meter. Bessert sich der Zustand nicht, musst du weitere fünfhundert Meter runter. Mit der Höhe ist nicht zu spaßen! Wer auf einen Achttausender will, muss eine extreme Kondition haben und hervorragend an die Höhe angepasst sein.“ „In der Todeszone über siebentausend Meter regeneriert der Körper sich nicht mehr“, füge ich hinzu. „Genau! Am Everest starten die Bergsteiger um Mitternacht vom obersten Basislager ihren Gipfelanstieg, sonst reicht die Zeit nicht mehr für den Abstieg. Alle sind unausgeschlafen und kämpfen mit Temperaturen, die selten über minus 20 Grad liegen. Das laugt den Körper aus und zehrt an der Kondition.“
Ich merke, wie wichtig Kami eine gute Vorbereitung und ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen Sherpa und Klient sind. Seine Gestik und Mimik sind eindeutig. „Hast du jemals selbst eine gefährliche Situation miterlebt?“, frage ich ihn weiter und er berichtet mir von einem Zeltlager am Everest auf 7700 Metern. Direkt neben einem Schneeabbruch wollte Kami neben dem Zelt einen Hering anbringen. Was er nicht sah, war blankes blaues Eis unter zehn Zentimeter frischem Pulverschnee. „Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte kopfüber den kurzen Abhang hinunter und flog mit dem Kopf voran über die Kante. Meine Sherpakollegen dachten, ich wäre tot, denn hinter der Kante geht es über tausend Meter senkrecht den Berg hinunter. Im allerletzten Moment erwischte ich ein altes Stück Seil, das nicht länger als einen Meter war. Es war an einer Seite im Eis eingefroren. Blitzschnell griff ich zu und konnte meinen Fall stoppen. Am Seil gelang es mir, mich hochzuziehen und wieder über die Kante zu wuchten.“ „Und was geschah dann?“ frage ich nach. „Ich stieg ins nächste Lager ab und überraschte dort im Zelt meine Kollegen, die mittlerweile dachten, ich wäre bei dem Sturz umgekommen. Ich zitterte am ganzen Körper.“ Danach versprach er seiner Frau Yangdi, dass er den Everest nicht mehr besteigen würde. Kleinere Achttausender, wie sein Lieblingsberg Cho Oyu, sind kein Problem, aber die schweren Gipfelexpeditionen lässt er andere machen. Zu groß ist die Angst seiner Frau während seiner Abwesenheit und die Verantwortung, die er für seine beiden Kinder trägt.
Verantwortung hat Kami auch für andere Menschen übernommen: „Wir profitieren vom Tourismus, aber wir müssen auch etwas zurückgeben.“ Um zu unterstreichen, wieviel Bedeutung Kami einer ausgewogenen Tourismusentwicklung beimisst, steht er auf, kramt vor mir einen Ordner aus seinem Regal und gibt mir Dokumente der Wohltätigkeitsorganisation „Education for Orphans in Nepal – Bildung für Waisenkinder in Nepal“ in die Hand. „Ich habe die Organisation 2001 ins Leben gerufen. Nach neun Jahren Arbeit hat uns die Regierung 2010 offiziell als Wohltätigkeitsorganisation registriert.“ Er erkannte auf seinen geführten Expeditionen und Trekkingtouren, dass sehr viele Waisenkinder in den unzugänglichen Bergdörfern Nepals leben. „Ich forschte ein wenig nach und fand heraus, dass es ungefähr eine Millionen Waisenkinder in unserer Gesellschaft gibt. Nepal hat insgesamt über dreißig Millionen Einwohner. Diese Zahl erschreckte mich sehr.“ Ich erzähle ihm, wie ein Vater in einem Dorf im Langtang Tal vor drei Jahren das Gespräch mit mir suchte und von seiner Tocher sprach, die gerade aus Kathmandu zurückgekommen war, weil das Geld für ein weiteres Schuljahr nicht mehr reichte. Der Vater war untröstlich und bat mich, der Schule Geld zu überweisen, damit seine Tocher wieder zurück in die Schule gehen darf. Er hatte einen Waisenjungen angenommen und wusste nicht, was er mit ihm machen sollte. Ihm konnte er überhaupt keine Zukunft bieten und ich merkte, wie der Junge ihm immer stärker zur Last wurde. Vielerorts herrscht der Glaube, dass Waisenkinder ihre Eltern umgebracht haben und Pech und Unglück anziehen. Deshalb werden sie häufig von der Großfamilie oder der Gemeinschaft vernachlässigt und im schlimmsten Fall verstoßen. Aufstiegsmöglichkeiten oder Zugang zu Bildung haben die allerwenigsten. „Ich selbst hatte mehrerer solcher Begegnungen“, antwortet Kami. „2001 traf ich auf ein Waisenkind, das in einem fürchterlichen Zustand war. Ich nahm sie mit nach Kathmandu und brachte sie in ein Internat. Dort bekommt sie solange eine Ausbildung finanziert, bis sie ihr High School Diplom machen wird. Seitdem haben wir weitere Kinder aufgenommen und ermöglichen ihnen eine gute Ausbildung.“ „Wer genau bezahlt dafür?“, möchte ich wissen. „Ein Teil wird gespendet. Mit dem Einverständnis meiner Kunden geht ein weiterer Teil der Gelder aus den Gebühren hervor, die für von mir organisierte Trekkingtouren bezahlt werden müssen. Ich informiere die Kunden vorab, so dass sie selber entscheiden können, ob sie sich für einen guten Zweck engagieren möchten oder nicht.“ Mit dem Geld wird nicht nur eine Ausbildung bezahlt, Mitarbeiter der Organisation um Kami herum nehmen auch Kinder in den Schulferien in ihre Familien auf und leisten so eine wertvolle emotionale Unterstützung. „700 bis 750 Euro pro Jahr benötigen wir pro Kind, um die Ausbildung zu finanzieren. Das Ziel ist ein Schulabschluss, egal wie lange es dauert“, fügt er hinzu. In der Gründung dieser Wohltätigkeitsorganisation kann ich Kamis Dankbarkeit ablesen. Er ist selber aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegen und kann heute als erfolgreicher Geschäftsmann seinen beiden Töchtern Doma und Ningma eine sehr gute Ausbildung auf einer Privatschule in Kathmandu ermöglichen. Offensichtlich hat er seinen Hintergrund nicht vergessen. Zudem ist er sich der Bedeutung eines nachhaltigen Tourismus bewusst, der neben den wirtschaftlichen und ökologischen Implikationen auch die Sozialverträglichkeit im Blick haben sollte.
Kathmandu verabschiedet mich mit einem schweren Erdbeben, als müsste die Stadt mir beweisen, wie zerbrechlich die nepalische Gesellschaft wirklich ist. Auf der Richterskala wird die Stärke mit 6.9 angegeben. Das Epizentrum liegt in der indischen Grenzregion in der Nähe zu Sikkim. Ich stehe in der Lobby meines Hotels und plötzlich bewegt sich der Boden auf und ab. ,Erdbeben‘ denke ich und renne, wie alle anderen, raus auf die Straße, wo die Erde weiter wackelt. Man hört Schreie und die Bewohner in der Nachbarschaft stehen alle draußen und schauen auf ihre Häuser. In der ,Himalayan Times‘ lese ich tags darauf am Flughafen, dass drei Personen in der britischen Botschaft von einer umgefallenen Mauer erschlagen wurden. Das Erdbeben war weit nach Indien hinein zu spüren.
(C) 2012 – Marcus Hillerich