Neu Delhi
Ich habe völlig die Orientierung verloren. Das Chaos fehlt. Irgendwie scheint alles neu geordnet und verändert. Ich suche nach Bekanntem. Noch vor einem Jahr sah hier alles anders aus. Reklameschilder kämpften um Geltung im Wirrwarr an Stromkabeln, die wie ein Spinnennetz über die Straßen ragten und vor den Häuserzeilen in einen dicken Kabelklumpen am Ende eines Mastes zusammenliefen. Einmal habe ich aus der Everest Bakery, einem versteckten Café in einer Seitengasse, bei einem heißen Masalatee beobachtet, wie Elektriker sich kunstvoll durch das Dickicht an Elektrokabeln durcharbeiteten und die defekte Leitung nach stundenlangen Tests identifizierten und erneuerten. Mit aller Zeit der Welt sah ich gespannt von meinem Tisch zu und bestaunte die Gelassenheit, mit der die auf einer Bananenkiste stehenden Techniker das Problem angingen. Eine Nadel im Heuhaufen zu finden wäre einfacher gewesen. Apropos finden – jetzt fehlt dieses bekannte Durcheinander, ebenso die Leuchtreklame und Hinweisschilder, die zum Hotel Star Paradise führten, oder zur Everest Bakery, die auf die unzähligen kleinen Handwerkerbetriebe aufmerksam machten und die Touristen zielsicher in die Geschäfte steuern sollten. Alles ist weg. und ich habe das Gefühl, dass ich in einer anderen Gegend bin, als auf der Main Bazaar Road im Paharganj Viertel inmitten der Millionenmetropole Neu Delhis.
Über die Jahre sind meine Frau und ich immer wieder hierher zurückgekehrt und haben Delhi als Zwischenstopp zu Exkursionen ins Himalaya oder nach Rajasthan genutzt. Einige wenige Tage der Akklimatisierung in einem vertrauten Umfeld waren stets nötig, um alles für bevorstehende Touren zu organisieren. Dabei hat mir das Basarflair und heillose Durcheinander in der Paharganji – Gegend besonders gefallen.
Weit weg von klinisch reinen 4-Sterne-Hotels fand hier das Leben mitten auf der Straße statt: Es wurde geschweißt, geschnitten, gewaschen gesäubert, verkauft, eingekauft und geschlachtet; alles geschah im Dreck am Straßenrand. Es gab keinen Versuch, die Rauheit des Lebens zu verbergen. Die Straße war immer voll von Menschen. Ersatzteile wurden zusammenmontiert. Barfüßige Rikschafahrer, die die Mehrheit der Bevölkerung auszumachen scheinen, kämpften aggressiv um Kundschaft. Menschenmassen liefen umher. Dazwischen sah ich Kinder schreien oder lachen. Köpfe verschwanden in einem Netz von verwinkelten Gassen. Straßenhändler lauerten auf Rucksackreisende, um sie mit ihren Tabletts, überladen mit Bananen, Süßigkeiten, Kuchen oder Wasserflaschen zu überfallen. Fahrzeuge, die die Luft mit Abgasen verpesteten, Tigerbalsam verkaufende Straßenhändler und menschliche Exkremente in der tropischen Hitze waren eine Tour de Force für die Sinne und rissen einen von den Beinen.
Was ist passiert, frage ich mich. Plötzlich schweift mein Blick nach oben und ich sehe wie mit dem Kuchenmesser abgeschnittene Häuserfronten. Stahlträger sind durchtrennt und ragen verlassen und ohne Aufgabe auf die Straße. Reste ehemaliger Zimmer sind von außen zu erkennen. Es scheint, als hätte jemand entlang einer imaginären Linie alle Häuserfronten gekappt – auf beiden Seiten der Main Bazaar Road. Ich laufe in den ersten Laden und frage nach. Rakesh Gupta, dessen ‚Manpasand‘ Bekleidungsgeschäft für Damen an der Straße Richtung New Delhi Train Station liegt, hilft mir zu verstehen:
„Die Commonealth Games sind Schuld daran. Im April wurde mit der Abrissaktion begonnen. Bulldozer und Bagger verwandelten unsere Hauptgeschäftsstraße in ein Trümmerfeld, das mit Beginn der Monsunregen völlig aufgeweicht wurde. Wochen dauerte die Beseitigung des Schutts.“
Ich möchte wissen, ob Kompensationsleistungen bezahlt wurden und kenne schon die Antwort. Typisch, daran denkt ein Ausländer zuerst.
„Natürlich nicht. Viele Händler haben ihr Geschäft verloren. Auf jeder Straßenseite wurden 10 Feet (etwas mehr als 2 Meter) abgetragen. Kleinere Geschäfte verloren drastisch an Verkaufsfläche und können heute nur noch ein reduziertes Warenangebot präsentieren. Manche mussten komplett aufgeben.“
Die Commonwealth Games, ein internationales Sportereignis, fanden 2010 in Delhi statt. Die besten Sportler aus Ländern des Commonwealth of Nations konnten sich in verschiedenen Sportarten miteinander messen. Am Flughafen hatte uns ein neues Terminal erwartet. Die Seitenstreifen der Zubringerschnellstraßen in die Innenstadt waren begrünt und erleuchtet.
Obdachlose, die bis dato dort im Dreck oder im Schutz einer Bushaltestelle schliefen, mussten weichen. Alle 800 Meter überwachte ein Soldat oder Polizist den neuen Rollrasen. Extra Fahrspuren für eigens eingerichtete Commonwealth Busse zwangen den restlichen Verkehr in ein Nadelöhr.
Indien spricht im Nachhinein von einem Erfolg auf ganzer Linie. Die offizielle Website des Veranstalters schmückt sich mit Slogans wie „Delhi promised – Delhi delivered“. „Der erwachte Gigant“ konnte auf 101 gewonnene Medaillen zurückblicken. Indien will insbesondere gegenüber China glänzen und ein Sportgroßereignis erfolgreich inszenieren. Aber das Motto „Shining India“, Glänzendes Indien, wurde schnell von der Times of India, der größten englischsprachigen Zeitung des Landes in „Shame India“, Indiens Schande, umgetauft. Im Ausland hatten die Medien von einer eingestürzten Fußgängerbrücke berichtet, von Korruptionsskandalen und von Pfusch am Bau. Die Briten äußerten sich bereits im Vorfeld besorgt über den Zustand der Unterkünfte im Dorf der Athleten. BBC 1 sprach von schlampiger Organisation, von halb fertigen, dreckigen Zimmern. Wenig später jagten Bilder durch die Nachrichten, die Kinderarbeit anprangerten. Als würde nicht jeder in einem Schwellenland versuchen, von solch einem Großereignis zu profitieren. Einzelne Profisportler reisten aus Angst vor Krankheiten nicht nach Indien und nutzten dies wohlmöglich, um eine mangelnde Vorbereitung oder fehlende Wettkampfpraxis nicht erklären zu müssen. Touristen blieben ebenfalls weg.
ch wende mich wieder Rakesh Gupta zu und frage ihn nach den Gründen für die Abrissaktion in Paharganji. Er erwidert:
„Die Stadtplaner wollten den Tourismus in der Paharganji-Gegend fördern. Zu Beginn der Commonwealth Games sollte sich die Main Bazaar Road mit mehr Freiflächen und weniger zugestopften Straßen präsentieren. Man wollte mehr Tourismus in diesem Stadtviertel, zum Wohle der Stadt und der Händler vor Ort.“
„Und – hat es sich gelohnt?“ platzt es aus mir heraus.
„Nein, überhaupt nicht. Viel weniger Touristen sind hier, deutlich weniger als im Vorjahr“ sagt er mit ernstem Gesicht und wütender Stimme. Zornesfalten sind auf seiner Stirn zu sehen. Seine Mitarbeiter gesellen sich zu unserem Gespräch dazu und hören aufmerksam zu. „Das Geschäft ist schlecht. Große Hotels täuschen Touristen eine Hauptsaison vor, obwohl die Zimmer leer stehen.“ Rakesh findet viel Zustimmung im Laden und ich versuche, dies erst einmal zu verdauen. Ich beobachte die Main Bazaar Road.
In der Tat, ich sehe wenige Ausländer. Taxifahrer beschweren sich bei mir über fehlende Gäste. Gründe gibt es sicherlich mehrere. Der Abriss der Häuserzeilen füllt ganze Internetseiten. Backpacker im Lonely Planet Forum fragen sich, ob es sich lohnt, nach Paharganj zu kommen. Viele steigen anderswo ab. Der starke Monsun hat wahrscheinlich auch dazu geführt, dass viele weggeblieben sind.
Auf dem Weg zurück zu meinem Hotel trotten weniger heilige Kühe an mir vorbei, als sonst. Die neu geteerte und viel breitere Straße lässt mehr motorisierten Verkehr zu, der nicht mehr so häufig von fliegenden Händlern, Kühen oder anderen Hindernissen aufgehalten wird und als Bestrafung in ein ohrenbetäubendes Hupkonzert ausartet. Offensichtlich hat sich auch die Sicherheit verbessert.
Noch 2009 ragten zwei aus einem Flughafen aussortierte Metalldetektoren am Beginn der Main Bazaar Road in die Straße und sorgten für Verwunderung und Unverständnis. Alles ging oder fuhr an einer Seite vorbei während Polizisten Tee trinkend daneben saßen und gelangweilt das bunte Treiben verfolgten. Ein wenig die Straße hinauf bleibe ich bei einem mir bekannten Buchhändler stehen und starre seinen Laden an, der in der Fläche um die Hälfte geschrumpft, dafür aber auf zwei Stockwerke angewachsen ist. Über eine Holzleiter, die auf die Straße ragt, gelangt man nun in den oberen Teil des Ladens. Ich begrüße ihn und erkundige mich über die Rechtmäßigkeit der Abrissaktion in seinem Laden.
Er antwortet ehrlich: „Nun ja, viele Läden entlang der Main Bazaar Road sind in den letzten Jahrzehnten illegal in die Straße hineingewachsen. So haben sich die Behörden auf die Pläne aus den 1930er Jahren berufen. Der Bürgermeister Kanwar Sain argumentiert, dass jene Häuser, die illegal auf öffentlichem Land erweitert wurden, rechtmäßig abgerissen wurden, „um ‚grüne‘ Straßen zu schaffen, die sicher sind für Fußgänger und Fahrzeuge.“ „Die erste Abrisswelle hat im Auftrag der Gemeindebehörde dann dazu geführt, dass viele der Hauseigentümer „freiwillig“ die Häuserfronten zurück versetzten.“
Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfahre ich, dass es offensichtlich keine frühzeitige Warnung gegeben hatte und dass die Bewohner von den Baggern überrascht wurden. Proteste folgten. Der Interessenverband der Händler beklagt, dass 50 Läden ohne Warnung von den Behörden abgerissen wurden. Im Zuge der Schuttbeseitigung wurden Rohre verschüttet und das Wasser konnte nicht ablaufen.
Wasserlachen breiteten sich in Paharganji aus und boten Mücken ideale Brutplätze. In der Folgezeit brach dann auch Denguefieber, Malaria und Typhus aus und die Behörden verlegten mobile Einsatzkliniken in die Paharganji-Gegend. Shiv Kumar, Eigentümer von „Sareen Mens Wear“ bringt die Situation auf den Punkt: „Wir haben nicht nur unser Geschäft verloren, sondern leiden zudem noch jeden Tag. Touristen kommen nicht mehr, Hotels und Restaurants bleiben leer. Nur noch wenige Commonwealthtouristen besuchen uns und kaufen unsere Produkte.“
Zwei Wochen später bin ich zurück in Delhi. Der Fahrer lässt uns an der New Delhi Train Station aus seinem kampferprobtem Taxi aussteigen und bahnt sich hupend seinen Weg zurück in den unablässlich dahinfießenden Verkehrsstrom. Meine Frau und ich satteln uns unsere Rucksäcke auf und laufen auf der Main Bazaar Road zum Hotel. Unsere Blicke auf die Häuserfronten gerichtet, erkennen wir den Unterschied, den zwei Wochen Abwesenheit hier ausmachen können.
Auf der Straße werden Balken zurechtgesägt. Männer rühren Mörtel an, indem Wasser vorsichtig in einen kleinen Zementvulkan hineingegossen und dann mit dem Spaten vermischt wird. Eine Gruppe von neugierigen an Lollis lutschenden Jungs schaut den Arbeitern zu. Maurer errichten neue Außenmauern und kauern in luftiger Höhe auf Simsen. Die Ziegel dafür werden von schwitzenden, halbnackten, der Kaste der shudras zugehörigen Tagelöhnern auf Zugkarren herbeigeschafft. Elektriker schließen neu installierte Klimaanlagen an. Fassaden werden gestrichen und Werbetafeln angebracht. Paharganji regeneriert sich selber, wie ein verwundetes Tier, das seine Wunden leckt. Mit der Zeit wird das Chaos zurückkehren. Langsam werden die Häuser wieder in die Straße hineinwuchern, da bin ich mir sicher. Die Leute hier sind an Rückschläge gewöhnt und zeigen danach ihr Improvisationstalent.
Der unbeteiligte Beobachter erkennt schnell, dass diese Menschen, denen viel versprochen wurde, nicht von den angekündigten Infrastrukturprojekten profitiert haben. Indien war mit der Ausrichtung der Commonwealth Games überfordert und hat sich selber blamiert. Bei der Aufarbeitung der „Schande Indiens“ werden die Bewohner der Paharganji-Gegend wohl ein zweites Mal vergessen und müssen sich selber helfen. Die heilige Kuh vor uns scheint das wenig zu interessieren. Sie bleibt mitten auf der Straße stehen und, so scheint es mir, überwacht mit scharfem Blick die Bauarbeiten.
(C) Marcus Hillerich